Der Wundermann Europas
Der Wundermann Europas
Ursula Seiler-Spielmann
aus „Zeitenschrift“ 6 1995
Gemeinhin sucht einer, der die Weltbühne betritt, um verändernd einzugreifen, auch den Applaus. Den Applaus der Massen, den Applaus der Elite oder den Applaus der Geschichte.
Durch das 18. Jahrhundert jedoch ritt eine Gestalt, die sich unzähliger Masken bediente. um unerkannt das tun zu können, was Gebot der Zeit war: Das zerstrittene Europa zu einen und unter einem Baldachin des Friedens zu vereinen. Nicht weniger als 30 Pseudonyme gab er sich. und auch der Name, unter dem er Eingeweihten bekannt ist, ist nicht sein richtiger: Comte de Saint Germain.
Wer war dieser seltsame Mann, der da aus dem Dunkel der Geschichte auftaucht, für Minuten nur und dann wieder verschwindet? Dessen Spuren so flüchtig und doch so vielbedeutend sind, daß er noch heute die Köpfe der Leute verwirrt – wie jenen des Schriftstellers Umberto Eco. der ihn als Rätselgestalt in seinem ,Fou-caultschen Pendel‘ pervertiert? Über den Voltaire am 15. April 1760 in Preußen an den König schrieb: „Man sagt, daß das Geheimnis des Friedens nur von einem gewissen Herrn von Saint Germain gekannt werde, welcher ehemals mit den Vätern des Konzils soupiert habe. Er ist ein Mann, welcher gar nicht stirbt und alles weiß!“ – und den der österreichische Graf Philipp Cobenzl am 25. Juni 1763 so beschrieb: „Er ist Dichter, Musiker, Schriftsteller, Arzt, Physiker, Chemiker, Mechaniker und ein gründlicher Kenner der Malerei. Kurz, er hat eine universelle Bildung, wie ich sie noch bei keinem Menschen fand.“
Seine Anhänger – und ihre Zahl wächst heute stetig – nennen ihn den „Meister von Europa“, dessen Bestreben es gewesen war (und immer noch ist), die einst zerstrittenen Völker Europas unter einem Baldachin zu vereinigen. Nun, als Adept, der er war, lag sein Horizont in weiteren Zeitfernen als der unsrige. Waren nicht so zerstörerische Kriege wie jene unseres Jahrhunderts absehbar, wenn zunehmender Nationalismus von den Finanzmagnaten geschürt und schließlich entzündet wurde? Dieser Weltenbrand als Katalysator des neuen, heraufziehenden Wassermann-Zeitalters? Wären damals die Europäer Brüder geworden und hätten sie sich stärker aufs Geistige besonnen – die Kämpfe, die eine neue Schwingung, ein neues Zeitalter immer begleiten, hätten sich bloß auf der Mentalebene abspielen, sich in Disputen ausdrücken können, statt ein solch grausames Blutopfer zu fordern.
Die Idee eines europäischen Staatenbundes war nicht erst seit Saint Germains Auftauchen aktuell. Schon die Tempelritter hatten sie gehegt – und ihr Ansinnen war es gewesen. Europa unter einem König zu vereinigen, der das Blut Jesu (!!!) in sich trug. der direkt vom Hause David abstammte, und deren Nachfahren noch heute in einigen europäischen Fürstenhäusern, u.a. den Habsburg-Lothringern zu finden sind. Der große französische König Heinrich IV. von Navarra wollte die Großmächte in einem europäischen Völkerbund vereinigen, der „Allgemeine Christliche Republik“ hätte heissen sollen, und dem auch das Riesenreich Rußland angehört hätte. Die Allianz hätte insgesamt 15 Staaten gezählt, und als Institutionen hatte Heinrich IV. (Henri Quatre, 1553-1610) ein Europa-Parlament und ein Friedensgericht vorgesehen.
Das 18. Jahrhundert, in dem Saint Germain sich bewegte, wurde beherrscht von absolutistischen Königshäusern, die mehr in nationalistischem Denken gefangen waren denn je. Der spanisch-österreichische Erbfolgekrieg war wohl mit dem Frieden von Utrecht beendet, hatte aber kleinere und größere Veränderungen nach sich gezogen. Im Norden Italiens residierte das Herzogshaus Savoyen in Turin. Fünf Jahre waren jene Könige von Neapel-Sizilien, dann nahm man ihnen die Krone wieder und bot ihnen stattdessen Sardinien an. Frankreich wurde vom schwachen Louis XV. regiert, der unwissentlich den Boden für die Französische Revolution bereitete, und der Osten Europas war geprägt von den polnisch- sächsischen Erbstreitangelegenheiten. Frankreich, England, Großbritannien und Preußer fochten in der Mitte jenes Jahrhunderts den Sie siebenjährigen Krieg aus. und in Rußland hatten sie Katharina auf den Zarenthron gesetzt. Nun gab es also nicht nur „Friedrich den Großen“, sondern auch eine „große“ Zarin. Nicht zu vergessen auch der Vatikan mit seinen „Kaisern der Kirche“. Alle immer wieder im Streit miteinander, das große Taktieren. Allianzen so brüchig wie tauendes Eis. Bestimmt wäre es leichter gewesen, eine Schar Kampfhunde friedlich zu vereinigen, ab diese widerborstigen, machtverliebten, verschlagenen Könige und Kaiser(innen).
Das 18. Jahrhundert war eines des Pomps mit seinem überbordenden Rokoko, aber auch eines in dem sich wie lange nicht mehr Magie und Philosophie, Politik und Religion vermengten. Daß so genannte Zeitalter der Aufklärung war keineswegs so nüchtern, wie wir es uns vorstellen, und auch längst nicht so skeptisch, wie es vielleicht von Gutem gewesen wäre. Die Zahl okkulten Veröffentlichungen nahm nicht ab, sondern zu, Geheimgesellschaften wucherten, und Magische Heilungen, Alchemie, Wünschelruten. Physiognomik und mystische Sekten wurden zum Tagesgespräch. Die Baronesse von Oberkirch schreibt in ihren Memoiren: „Nie hat es mehr Rosenkreuzer, mehr Adepten, mehr Propheten gegeben; nie ist ihnen mit größerer Leichtgläubigkeit zugehört worden als heute.“
Alles war Schauspiel, alles wurde auf der Bühne der Eitelkeiten beklatscht oder verfemt -begreiflich, denn nur adlige Verzückung garantierte in der Regel für weitere Forschungsgelder. Benjamin Franklin führte seine Entdeckungen zur Unterhaltung seiner Gäste während eines „elektrischen Abends“ vor, die Brüder Montgolfier schmückten ihre höchst gefährliche „Maschine“, den Luftballon, mit den Initialen Ludwigs XV, um die furchtsamen Zuschauer zu beruhigen. und so erstaunt es nicht, daß der Graf von Saint Germain unter anderem deshalb bei der adligen Damenwelt ein gern gesehener Gast war, weil er in seinem Alchemisten-Labor ein Wasser zur Verjüngung entwickelt hatte.
Phantastisch, ja unglaublich sind denn auch die Dinge, die man über ihn herumerzählte. Friedrich der Große selbst nannte ihn den Mann, der nicht sterben konnte: die Gräfin Gergy rief aus. als sie ihn in Versailles sah: „Vor fünfzig Jahren war ich Gesandtin in Venedig. Ich erinnere mich, Sie dort gesehen zu haben. Sie sahen genau so aus wie heute, wenn auch vielleicht etwas reifer, denn Sie sind jünger geworden!“ Der Komponist Rameau (1683-1764) wollte sich erinnern, Saint Germain im Jahre 1701 gesehen und ihn auf um die 50 geschätzt zu haben – etwas älter, als er im Jahre 1743 der Wiederbegegnung wirkte.
Der Graf solle selbst in vertraulichem Ton von einer Unterhaltung mit der Königin von Saba berichtet haben – so als ob es gestern gewesen wäre, oder von den wunderbaren Ereignissen bei der Hochzeit von Kanaan. Er kannte die Klatschereien am Hofe von Babylon. Geschichten, die Jahrtausende zurücklagen und die doch in so seltsamer Weise den Geschichten am französischen Hofe ähnelten, daß er die ganze Versailler Welt damit bestrickte. Es hieß, er könne sich unsichtbar machen und wieder auftreten, wo er wolle, und er selbst hatte einmal dem Freiherrn von Alvensleben bekannt: „Ich halte die Natur in meinen Händen, und wie Gott die Welt geschaffen hat, kann auch ich alles, was ich will, aus dem Nichts hervorzaubern. “
Eine der phantastischen Geschichten über den Comte de Saint Germain erzählt, wie ein Skeptiker den Diener Roger des Grafen angesprochen habe: „Dein Herr ist ein Lügner“, und Roger treuherzig antwortete: „Ich weiß das besser als Sie: Er erzählt jedermann, daß er viertausend Jahre alt ist. Aber ich bin erst hundert Jahre in seinen Diensten, und als ich zu ihm kam. sagte mir der Graf, daß er dreitausend Jahre alt sei. Ob er irrtümlich neunhundert Jahre hinzugefügt hat oder ob er lügt, kann ich nicht sagen.“
Daß jener Mann, der als Algarotti, WelIdo-ne, Gua de Maiva oder Solar von Fürsten- zu Königshöfen reiste über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügte, bezweifelt keiner seiner
Zeitgenossen. So war verbürgt, daß er einer der hervorragendsten Alchemisten der Geschichte war, daß er Gold herstellen. Diamanten veredeln konnte und auch das Lebenselixier gefunden habe.
Auch seine Eßgewohnheiten waren für die Menschen des 18. Jahrhunderts schwer verdaulich. Der sächsische Gesandte Kau-derbach schrieb am 14. März 1760 an den Dresdener Minister Wackerbarth: „Saint Germaiin sieht aus wie ein kräftiger Fünf-undvierziger (ist er 1696 geboren, wäre er da schon 64 Jahre alt gewesen, die Red.), aber er selbst gibt zu verstehen, daß er kein Fleisch ißt, nur etwas Hühnerfleisch, Fisch und Gemüse. Wenn es mir gelingt, ihm sein Geheimnis, lange zu leben, zu entlocken, so wer de ich es dem König (August III. von Polen Kurfürst von Sachsen) nicht verschweigen. Saint Germain kennt die schönsten Geheimnisse der Natur und weiß Ungläubige zu bekehren oder zu überzeugen.“ Schwer verständlich auch viele sonst an seinem Wesen: „Um Reichtum und irdische Größe kümmert er sich nicht, es genug ihm, wenn er den Titel „Bürger des Staates“ beanspruchen darf. Auch besprach er das Schicksal Frankreichs. Der Ursprung des Übelstandes ist die Schwachheit des Fürsten und die Uneinigkeit um Hofe: vom König bis zur Hanswursterei. Es geschieht also bisweilen, daß er unvorsichtig in seinen Ausdrucken ist. Die Holländer sind gut, aber zu schwerfällig, als daß sie seine Manieren verstünden. Es steht fest, daß in diesem Augenblick wichtige Unterhandlungen geführt werden.“
Was indes die phantastischen Geschichten an ging – zum Beispiel auch, als er über die heilige Familie berichtete, als ob er selbst zugegen gewesen wäre – nun, das sprengte das Erklärungsvermögen seiner Zeitgenossen.
Daß er tatsächlich 4000 Jahre ohne Unter bruch gelebt hat, darf zu Recht bezweifelt werden. Doch wie sieht die Sache aus, wenn man den Tod als das erkennt, was er ist – als bloßes Hinüberwechseln auf andere Seinsebenen? Wenn man um die Tatsache der Reinkarnation weiß. dann ist nicht mehr verwunderlich, aus welchen Zeiten er berichten konnte: Einem Adepten wären bestimmt seine früheren Verkörperungen wie ein offenes Buch vor sich gelegen; einem weit fortgeschrittenen Adepten, einem, vielleicht, der sich sogar ,Meister‘ nennen durfte. wäre es auch ein leichtes gewesen, in der Akasha-Chronik (der Aufzeichnungen aller Geschehnisse auf Erden) zu lesen.
War er ein Meister? In seinem ganzen Leben läßt sich nichts entdecken, was einen Schatten auf sein Wesen werfen könnte. Er galt als lebhaft, dabei stets freundlich und diplomatisch, und er besaß ein Universalwissen und -können, verbunden mit einem wohltemperierten, reinen Charakter, der ihn zum idealen Menschenbild fürs kommende Zeitalter machen könnte. „In jeder Lebenslage beherrscht er sein Ich“, schreibt Irene Tetzlaff im Buch „Unter den Flügeln des Phönix“. Er sprach Griechisch, Lateinisch, Sanskrit, Arabisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch. Er war ein begabter Maler, ein Virtuose auf Cembalo und Geige, gab in London öffentliche Konzerte, schrieb unter dem Pseudonym „Giovanni“ eine Oper (L’inconstanza delusa), Lieder, Arien und Soli für Geigen. Daß er dabei keineswegs ein Dilettant war, läßt sich an der Aussage ablesen, die Max Graf von Lamberg (1729-92) in ,Le Memorial d’un Mondain‘ machte: „Der Mann besitzt tausend Talente; er spielt z.B. vorbildlich Geige und die Zuhörer glauben, fünf Instrumente zugleich zu hören; als Italiener Giovanni, Zeitgenosse von Graun, Telemann und Buch, komponierte er Lieder, sang sie akkkompagnierte sich selbst.“ (Berlin 1740).
Biblische Ereignisse rief er vor Anhängern mystischer Zirkel gegenwartsnah zurück, und auch seine Geschichts- und Geographie-Kenntnisse waren universal. Sein chemisches Wissen überragte das aller Zeitgenossen. Seine Herkunft allerdings lag im Dunkeln, und bis heute ist es niemandem gelungen, diese schlüssig zu erhellen.
Eine Hypothese besagt, er sei der erstgeborene Sohn des ungarischen Fürsten Franz II. Rakoczy gewesen und am 28. Mai 1696 in Klausenburg (Cluj) in Siebenbürgen geboren. Seine Mutter war Charlotte Amalie, Tochter des Landgrafen Karl von Hessen-Rheinfels-St.Goar-Wanfried. Im Alter von vier Jahren und drei Monaten „starb“ Leopold Georg, so sein Name. Allerdings bloß offiziell, da sonst sein Leben wirklich gefährdet gewesen wäre. Sein Vater war der Anführer der ungarischen Freiheitsbewegung gegen den Thron der Habsburger in Wien. Freunde seines Vaters rieten ihm, den Erstgeborenen außer Gefechtsweite zu bringen, und so soll der kleine Leopold in Florenz bei Giangastone dei Medici, dem letzten des großen Geschlechts, einem mütterlichen Anverwandten, Unterschlupf gefunden haben. Das Kind, da namenlos, erst einfach „bambino“ (Knabe) genannt, entwickelte sich zur Freude aller, entpuppte sich als außergewöhnlich begabt und sog alles Wissen auf, dessen es habhaft werden konnte.
Als die Zeit der Firmung kam, soll der Medici den Jungen gefragt haben, welchen Namen er denn tragen wolle. „Germanus“ solle die schnelle Antwort gelautet haben, nach dem Städtchen San Germano am Fuße des Monte Cassino. einer alten Benediktiner-Abtei, die Bambino oft mit seinem väterlichen Freund aufgesucht hatte. Dann habe er sich korrigiert – „San Germano“ solle sein Name sein. In dem Namen liege Geschichtsbedeutung, habe Bambino geäußert. Der Medici riet ihm zur französischen Form: Saint Germain „Heiliger Germane“
päter, erzählt diese Geschichte des jungen Saint Germain, habe er kurze Zeit in Siena studiert, wo es ihm aber bald zu eng geworden sei -besonders, als er von einem sienesischen Goldschmied in die hermetische Kunst der Alchemie eingeweiht worden war. In Piombino stieg er auf ein Schiff, das ihn nach Mittelamerika brachte. arbeitete in Mexiko auf Plantagen, kam zurück nach Lissabon, fand dort – oh Wunder! – ein ansehnliches Vermögen vor, das auf seinen Namen deponiert worden war und einen Brief seines längst aus Siebenbürgen vertriebenen, einsamen Vaters, der im türkischen Rodosto ein Exil gefunden hatte. Auf der Schiffsreise dorthin machte er die Bekanntschaft eines Gelehrten, von dem er viel später sagen sollte: „Ich hatte das Glück. auf meinem Wege einem weisen Manne zu begegnen, welcher mich die Natur und Gottes verborgene Geheimnisse kennen lehrte. (…) Ein natürlicher Drang zu Weltweisheit, Theologie und Naturgesetzen erwachte in meinem Innern.“
Mehr noch erfuhr er von jenem geheimnisvollen Manne: Von Orden und Sekten, die geheim wirkten, von verschwiegenen Zirkeln der Alchemisten und Rosenkreuzer. die damals gerade im Nahen Osten sehr aktiv waren.
Sein Vater schickte ihn mit einer persönlichen Botschaft zum Sultan des Osmanischen Reichs. Saint Germain fand wärmste Aufnahme, fühlte sich gleich wohl im höfischen Milieu, in dem er Zeit seines Lebens verkehren sollte. Der Orient bot ihm noch weit mehr: Einblicke in die Kunst des Färbens, der Heilkraft orientalischer Pflan- zen. der Formeln mittelalterlicher Alchemisten und der heimtückischen Gifte Asiens. Auf dem Gebiet der Farben und der Methoden des Färbens von Seide. Baumwolle, Wolle und Leder entwickelte der Chemiker Saint Germain später viele Verbesserungen und Neuerungen, die jenem Wirtschaftszweig zugute kommen sollten. Hier nahm er auch die Spur auf, die ihn schließlich sein „Jungborn‘-Wasser“, das „Aqua benedetta“, ein Schönheitswässerchen für verlängerte Jugend, herstellen ließ, welches besonders unter den Damen Frankreichs sehr begehrt war.
So also die (re-?)konstruierte Jugendgeschichte des Grafen von Saint Germain, wie seriöse Forscher sie vorgefunden haben wollen. Allein, ob sie wirklich so verlauten ist. kann niemand sagen, und auch hier gibt es Gegenstimmen – zum Beispiel den erwähnten Rameau, der behauptete. 1701 einen etwa 50jährigen Saint Germain getroffen zu haben. Wohl möglich, daß er einem Irrtum unterlag. Andere „Eingeweihte“ bringen vor, Saint Germain sei in seinem Vorleben der englische Lordkanzler und Philosoph Sir Francis Bacon gewesen. Dieser sei – anders als die offizielle Historie vermerkte – niemals wirklich gestorben, sondern nach Indien gegangen und habe sich dort die Meisterschaft erworben. um dann später als jener Reisende in Friedenssachen zurückzukommen, den wir als Saint Germain zu kennen glauben. Dies würde erklären, warum er immer gleich jung aussah, und warum er sagen konnte, er könne alle Dinge aus dein Nichts erschaffen – Meisterschaft bedeutet eben auch die Be-meisterung aller Energien, also auch der Materie. Einem Meister bereitet es keine Mühe. zu präzipitieren und zu materialisieren. da ja alle Materie bloß verdichtete Geistesenergie ist.
Wie auch immer, für die Aufgabe, die ihm bevorstand. und die er zu unser aller Leidwesen nicht vollenden konnte, wie es dem göttlichen Willen entsprochen hätte, brauchte es beinahe übermenschliche Qualitäten. In einer Zeit. wo die Durchschnittsmenschen kaum reisten, also der Bewohner des angrenzenden Fürstentums schon ein Fremdling war, wo jeder kleine Fleck seine eigenen Gesetze, sein eigenes Münzwesen hatte, wo die Menschen sich nicht nur geographisch. sondern auch standesmäßig sehr als uneins empfanden, hatte er sich vorgenommen, den Gedanken der Einheit.
der Gleichheit und der Brüderlichkeit unter dem Banner wirklicher Freiheit zu verbreiten. „Liberte. Egalite. Fraternite“ – Begriffe. denen auch Saint Germain sich verschrieben hatte. Daß sie dann aufs Banner einer blutigen Revolution geschrieben wurden, die alles. was Frankreich groß gemacht hatte, in den Abgrund riß – einer Revolution zudem, die Saint Germain zu verhindern versucht hatte – das gehört zur Tragik des ungehörten Weisen von Europa.
Von außen betrachtet war Saint Germain einfach ein raffinierter, wenn nicht gar schlauer Edelmann, vornehm, stets teuer gekleidet, offenbar unerschöpflich reich, der an diesem oder jenem Hofe auftauchte, musizierte. Konversation machte, die Damen mit neuesten wunderbaren Stoffen entzückte und mit Kosmetika, mit Fürsten Gespräche hinter verschlossenen Türen führte, um dann wieder aufzubrechen an einen anderen Hof. Näher in den Fokus genommen, fiel immerhin auf, daß er sich vieler Tarnamen bedienen mußte, verfolgt wurde von fürstlichen und königlichen Agenten, seine Tage gern in alchemischen Labors verbrachte und sich jeder Anbindung an ein Land oder einen Hof geschickt entzog.
Am 10. Juni 1759 erschien im Hauptquartier des Königs von Preußen ein Geheimagent, der sich wohl „Baron de La Marche Couronne“ nannte, der aber unverkennbar Saint Germain war. Friedrich II. gewährte ihm ohne Zögern Audienz. Nach der Unterredung soll der König sehr nachdenklich gewesen sein. Zehn Tage später schrieb er einen vertraulichen Brief an Georg II. von England, den Bundesgenossen Preußens, in welchem er seine Bereitschaft zur Eröffnung eines Friedenskongresses in Holland ausdrückte. Frankreich, England, Preußen und Österreich bekämpften sich im Siebenjährigen Krieg (1756-1763), und Saint Germain reiste in Sachen Frieden von Hof zu Hof. Am 17. Februar 1760 schreibt Friedrich II. von Preußen an Solar (einer der Namen von Saint Germain, unter dem er auch als Gesandter des Königs von Sardinien auftrat): „Ihr ehrwürdiger Charakter ist mir sympathisch. Sie sind der geeignete Mann, meine Worte dem König von Frankreich sagen, daß Frankreich seinen Frieden mache mit Preußen und England.“
Der König von Frankreich, Ludwig XV., steckte derweil in argen innenpolitischen Schwierigkeiten. Unglückliche Finanzoperationen hatten die Kassen gelehrt, und der Unwille der Volkes wurde stetig größer. Ein Staatskredit mußte her, und beschaffen sollte ihn der Grafvon Saint Germain. Da die Verschuldung aber immens war, war abzusehen, daß die Darlehensgeber Sicherheiten forderten. Saint Germain sollte bitte seine alchemistischen Kenntnisse in die Tat umsetzen und wundervolle, kostbare künstliche Diamanten herstellen. Das Ansinnen des Königs bereitete Saint Germain schlaflose Nächte. Doch schließlich mußte er dem Souverän Gehorsam leisten. So reiste denn Anfang des Jahres 1760 Saint Germain nach Holland – erstens, um 30 Millionen für Louis XV. zu beschaffen, zweitens, um Friedensanbahnungen in den Botschaften Den Haags zu treffen. Diesen Auftrag hatte er geheim vom Kriegsminister Marschall Belle-Isle erhalten. Im Haag bespricht sich Saint Germain mit den Gesandten Englands und Preußens. Die Amsterdamer Kaufherren und Bankiers zeigten sich bereit. Frankreich vor dem Staatsbankrott zu retten. Dann bekommt der Duc de Choiseul Wind von den Aktivitäten des Grafen. Ihm. dem habsburgfreundlichen französischen Minister für Auswärtiges, hatte man bewußt Saint Germains politische Mission in Holland unterschlagen. Er gab Befehl, Saint Germain zu verhaften und an Frankreich auszuliefern. Und Louis XV., König ohne Rückgrat, setzte sich mit keinem Wort für seinen Retter, der ihn nicht nur aus Finanznöten befreite, sondern ihm zweimal nach Giftanschlägen das Leben gerettet hatte, ein. Nach einigem diplomatischem Wirbel wurde Saint Germain tatsächlich verhaftet, auf eigene Protestation hin jedoch wieder aus der Haft entlassen. Er hatte sich wirklich nichts vorzuwerfen. Da Choiseul aber neuerlich auf ihn angesetzt hatte, empfahl es sich, sehr dringlich nach England zu reisen. Das politische Ränkespiel erreichte ihn schließlich auch auf der britischen Insel – und der englische Staatssekretär William Pitt Lord Chatham (1708-78) ließ ihn erneut arrestieren. Als sich indes hohe Persönlichkeiten Englands und anderer Nationen um seine Freilassung bemühten, wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Mitte Mai 1760 traf er in Rotterdam ein und erzählte dort, daß er während seiner Gefangenschaft von Mitgliedern des „Geheimen Rats“ konsultiert worden sei. Die Erfahrungen hätten ihn gelehrt, daß der Friede unter den europäischen Völkern niemals über eine Verständigung der Fürsten erhofft werden könne. Eine Zukunftshoffnung läge allein im einheitlichen Streben der Ritterorden und Logen. Doch bei ihnen müsse auch erst das Dach gebaut sein, unter dem der „Tempel für die Menschheit“ wirksam werden könne.
Das weist daraufhin, daß das eigentliche Wesen. die eigentliche Arbeit des Grafen im Hintergrund wirkte. Wie er erfahren hatte, war es auf dem blank polierten Parkett der Höfe schwierig, eine geistig beseelte Politik durchzusetzen – zu sehr war da der Souverän auf dem Präsentierteller, zu sehr Opfer der eigenen Eitelkeit, zu sehr Gefangener diverser Verpflichtungen und Abhängigkeiten. Wo aber ließ sich am besten eine geistig beseelte Politik zum Wohle aller vermitteln? In der Verschwiegenheit der Logen, wo andere Gesetze, andere Hierarchien, andere Abhängigkeiten bestanden als in der Welt da draußen. Der wichtigste Teil der Mission Saint Germains vollzog sich also höchst wahrscheinlich in den vielen Orden und Logen, die gerade im 18. Jahrhundert eine Blütezeit erlebten: Die Malteser-Ritter, die Rosenkreuzer. die Freimaurer, die Tempelritter. Und gerade da ist es ungeheuer schwer, abzuschätzen, was vor sich ging. Daß er unter dem Namen Bailli de Solar einen wichtigen Vertrauensposten bei den römischen Malteser-Rittern einnahm, ist verbürgt. Auch, daß er immer wieder Kontakte zum Orden der Rosenkreuzer, zu den Templern und Freimaurern hatte – obwohl da mehrere Forscher sagen, er sei inspirierend tätig, nicht aber ein Mitglied dieser Orden gewesen. Der mit Saint Germain bekannte Kammerherr Bischoffwerder äußerte: „Er ist keiner der Unseren“ – und auf genaueres Nachfragen:
„Er ist kein Maurer, er ist auch kein Magus, auch kein Theosoph.“ Talleyrand wiederum schreibt in seinen Memoiren, er habe für den naturwissenschaftlichen freimaurerischen Orden „Societät Rosecroix“ gewirkt. 1740 schon hatte er in den Pariser Logen den geheimen Tempelgrad eingeführt. Sein Bestreben lag in der Zusammenfügung der äusseren Formen und inneren Vereinigung der Freimaurer-, Tempelritter- und Rosenkreuzer-Ideale, der Riten und Bräuche. Einen „Tempel der Menschheit“ wollte er errichten, in dem Religionsfreiheit Voraussetzung war – oder, wie Friedrich II. es in seinem berühmten Aussnspruch gesagt hatte: Jeder soll nach seiner Fasson selig werden können. Wie geschickt der Graf von Saint Germaine gewesen sein mußte, zeigt die Vollmacht, die er – dieser frei denkende und dabei doch gottergebene Geist- 1775 vom Heiligen Stuhl in Rom bekommen hatte. Darin hieß es. „Wir, Prior, Kanzler und Raden unseres Heiligen Stuhles, ermächtigen unseren Abgeordneten in den Provinzen von Deutschland, Dänemark, Schweden und Polen. unseren treuen Bruder des Heiligen Dienstes, den liebenswürdigen Theophilus, Ritter des siegreichen Schwanes, um unsere wahre und sehr alte Religion wiederherzustellen und zu verbinden mit den Logen der Freimaurer, um das Glück der Menschen zu fördern…“. Hatte die versöhnliche Natur des Grafen den Kardinälen. die den im Jahre 1775 verwaisten Heiligen Stuhl umstanden, eine Alternative zur üblichen Exkommunikation der Maurer gewiesen? Hofften sie. ihn lediglich als Agenten benutzen zu können. als Spitzel, um noch besser die Tempel der Maurer auszumisten?
Oder wußten sie mehr über die Vergangenheit des Grafen? Wie Baron Gleichen in seinen „Souvenirs“ erzahlt, kursierten damals in Paris Geschichten über einen Lord Gower (mit dem unverhohlen die Figur Saint Germains gemeint war), der im historischen „Marais du Temple“ eine biblische Figur gewesen sein soll, ein Mann, der zur Zeit Jesu im Heiligen Lande gelebt, und der Jesus Christus, Maria, Elisabeth und Anna gekannt haben wollte. Diese Geschichten wurden in den Pariser Salons mit Faszination und ungläubigem Zweifel aulgenommen.
„Das Glück der Menschen zu fördern…“ -welch wohlfeiler Wunsch in jenen schicksalsschweren Jahren des 18. Jahrhunderts, in denen auch der Widergeist sich organisierte und wie tückisches Gift in die geheimen Bruderschaften sickerte und sie zu Werkzeugen der dunklen Mächte machte. Sollte ihm Einhalt geboten werden, mußte die Vereinigung Europas alle Bereiche umfassen: Auch die geteilte Kirche. Sie wieder zusammenzuführen, war schon eines der Postulate von Gottfried Wilhelm Leibniz gewesen. dem großen Leipziger Denker (1646-1716) und wohl hervorragendsten Rosenkreuzer seines Jahrhunderts.
1777 arbeitete Saint Germain für den Vorkongreß der Präfekturen des Rosenkreuzer-Ordens in Leipzig, der Mitte Oktober stattfinden sollte. Um 1779/80 ersuchte ihn Prinz Ferdinand von Braunschweig, derFreimaurer-Loge eine Neuregelung ihrer Gesetze und Geheimhatung zu erarbeiten. 1782 wurde auf dem Kongreß zu Wilhelmsbad die Verschmelzung des Templer-Ordens mit den Logen vollzogen. Saint Germain unterzeichnete sie als „Chef de Bien“.
Saint Germains Reformpläne, die er in die Logen einfließen ließ. umfaßten alle Bereiche: Fürstenerziehung, Menschenerziehung, Staatskunst, Diplomatie, Naturlehre, Technik und Wissenschaft. In seiner Hellsichtigkeit glaubte er der jungen Generation zu dienen, indem er sie mit alter Weisheit und neuen Ideen beschenkte, analysiert Autorin Tetzlaff. Im Grunde arbeitete er daran, dem kommenden „Goldenen Zeitalter“ den Boden zu bereiten. Ellen Reinhardt im Buch „Leben des Grafen Saint Germain“: „… Dürften wir nun zum Abschluß diesen großen Adepten mit den Augen Leadbeaters betrachten, so erkennen wir ihn als den „Europäischen Meister“, der 2000 Jahre hindurch an der Entwicklung des geistigen Lebens Europas gearbeitet hat und als kulturelles Genie. das Wissenschaft, Kunst. Politik und religiöses Fühlen miteinander vereinigt.“
Am 27. Februar 1784. am Vorabend der französischen Revolution, die in einen friedlichen Prozeß münden zu lassen, eine seiner-vergeblichen – Bemühungen gewesen war, stirbt Saint Germain im idyllischen norddeutschen Städtchen Eckernförde.
Starb er aber wirklich? Als sein Schüler, der Landgraf Carl von Hessen, 1836 zu Grabe getragen wird (52 Jahre nach dem Tode von Saint Germain), wollen ihn mehrere Anwesende im Trauerzug gesehen haben, in einer seltsamen Tracht. Die Fischer von Holm, die, wie es schien, besonders hellseherisch veranlagt waren, behaupteten. der „Wundermann Europas“ lebe noch.
Marie Antoinette soll von ihm nach der Stürmung der Bastille einen Brief erhalten haben, in dem er ihr riet, den Vorwand der Aufständischen zu zerstören, indem sie sich von den Personen trenne, die sie nicht mehr liebe. „Lassen Sie Polignac und Konsorten fallen. Diese sind alle dem Tode geweiht und schon für die Mörder bestimmt, die eben die Beamten der Bastille getötet haben…“. Zur selben Stunde erhielt Madame Adhemar, Marie Antoinettes Vertraute, ein Schreiben: ,,Alles ist verloren. Sie sind Zeuge, daß ich alles getan habe. um den Ereignissen eine andere Richtung zu geben. Man hat mich abgewiesen. Zu spät. Ich wollte das von jenem Dämon Cagliostro vorbereitete Werk mir genauer betrachten. Es ist teuflisch… Ich verspreche, Sie zu treffen: aber fordern sie nichts. Ich kann weder dem König noch der Königin noch der königlichen Familie helfen…“. Auch dieser Brief habe von Saint Germain gestammt. Wirklich? Während der Revolution sei er da und dort in Paris erschienen, öfter auch auf der Place de la Greve. wo die Hinrichtungen stattfanden.
Der „Wundermann Europas“ lebt weiter in den Köpfen und Herzen jener, die seine Ideale teilen und dafür leben. Manchmal drücken sie ihre Liebe zu ihm so schwärmerisch aus wie W. R. Drake in den ..Kosmobiosophischen Schriften“ 1963: „Wir können nur hoffen, daß Graf Saint Gennain unter irgend einem berühmten Namen jetzt hier unter uns wirkt und das Schicksal unserer Erde lenkt. Wenn das der Fall sein sollte, wäre unsere durch Kampf und Streit zerrissene Welt nicht verloren, denn durch seine geheime Weisheit wird die Menschheit sich zu neuem Glanz hinaufentwickeln.“
Wir können sicher sein, daß er nicht nur in Köpfen und Herzen lebt, und daß er weiter baut an dem großen Plan eines Daches, das die ganze Menschheit in Glück und Frieden unter sich vereint.
aus „Zeitenschrift“ 6 1995