Karl May – Das Zauberwasser – 1 – In Versailles
Karl May - Das Zauberwasser - 1 - In Versailles
Das Zauberwasser
Karl May
Aqua benedetta
Ein geschichtliches Räthsel von Emma Pollmer
In Versailles
Ludwig der Fünfzehnte ging im Parke von Versailles spazieren. Während die bevorzugten Herren und Damen seines Hofes in respectvoller Entfernung folgten, hielt sich die Marquise von Pompadour, seine allmächtige Geliebte und eigentliche Gebieterin Frankreichs, dicht an seiner Seite, und die lebhaften Gestikulationen der beiden hohen Personen bewiesen, daß der Gegenstand der Unterhaltung ein für Sie außerordentlichinteressanter sein müsse.„Kennen Sie seine Abstammung, Madame?“ frug der König.„Sie ist ein Geheimniß, Sir, über welches er die tiefste Verschwiegenheit beobachtet, und ich glaube, daß selbst Ero Majestät Fragen hier ohne Erfolg sein würden.“„Dann hat er Gründe, seine Vergangenheit zu verbergen. Er ist aber trotzdem ein lebenswerther Abenteurer.“ „Der dem Staate von unendlichen Nutzen sein kann.“fügte die Favorite angelegentlich hinzu. „Es scheint sicher zu sein, daß ihm die Fabrikation edler Steine und Metalle wenig Schwierigkeiten verursacht; er hat während der kurzen Zeit seines hierseins die bewunderungswerthesten Kuren vollbracht und besitzt ein Flexir, welches die Einwirkungen des Alters vollständig aufhebt.“„Also ein Adept, ein Wunderdoctor!“
„Mehr, viel mehr als dies, Sir! Er zeichnet und malt genial, ist Virtuos verschiedener musikalischer Instrumente und spricht außer französisch, englisch deutsch, italienisch, spanisch, portugiesisch und den sämmtlichen alten Sprachen auch türkisch, arabisch, persisch und chinesisch. Der Mann ist ein Mirakel !“
„Und zwar eins von denen, deren Bewunderung in Enttäuschung übergeht.“ Die Marquise war sichtlich bemüht, die Zweifel des Königs zu beseitigen.
„Gestatten Ero Majestät die Gräfin von Gergh zu rufen!“ bat sie, und ohne die Antwort abzuwarten, wandte sie sich um und winkte einer Dame, welche sich im Gefolge befand.
Der längst verstorbene Graf von Gergh war vor fünfzig Jahren Gesandter in Venedig gewesen; die Dame war seine Wittwe.
„Seine Majestät wollen das Nähere über Ihr Zusammentreffen mit dem Grafen von St. Germain in Venedig wissen, meine Liebe. Wollen Sie Ihren Bericht kurz wiederholen!“
Die Gräfin verneigte sich zustimmend.
„Darf ich fragen, wie alt mich Ero Majestät schätzen?“ frug sie.
Der König lächelte über diese Frage, welche eine Dame nur in der sicheren Erwartung eines Complimentes auszusprechen pflegt. Er befand sich bei angehmer Laune und beschloß, die Gräfin durch eine hohe Ziffer zu ärgern. Er schätzte sie fünfzig, antwortete aber schnell und kurz:
„Sechzig!“
Jetzt war es die Frau von Gergh, welche lächelte.
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