Graf Saint Germain in der Literatur – Fazit

Graf Saint Germain in der Literatur  Friedhard Radam

Fazit

Bemerkungen zur Literatur über Saint-Germain und zu Saint-Germains Bild in der Literatur

(Einzelcharakteristiken in der Bibliographie)

„La science conjecturale de l’histoire -“ oder auch: Geschichtsschreiben ist Wunschdenken

Bei diesen allgemeinen Betrachtungen will ich nicht unbedingt Fiktion und an den Fakten orientierte Biographie auseinanderhalten. Der Begriff der „Wissenschaftlichkeit“ wird einem außerordentlich fragwürdig, wenn man sieht, daß ein Belletrist wie Lernet-Holenia auf wenigen Seiten Prägnanteres über Saint-Germain auszusagen weiß als ein Spezialist in einem ganzen Fach-Werk von Erörterungen, Zitaten und Fußnoten (Langeveld). Die beiden Bereiche kann bei unserem Gegenstand ohnehin kaum voneinander trennen, denn die Mischzone der Autoren, die offensichtlich weder Berufsschriftsteller noch Fachhistoriker sind, ist hier außerordentlich groß. Ich behaupte jedenfalls von der vorliegenden Qualität der Erzeugnisse her, daß einige eher als Dilettanten denn als Literaten zu bezeichnen sind (Dannenberg oder J. Cooper Oakley z.B.). Statt Fakten werden weihevolle Stimmungsbilder geliefert, und man gibt sich einem verfehlten literarischen Ehrgeiz hin, auch wenn man stattdessen durchaus Substanz zu bieten hätte. Damit will ich nicht pauschal „Weltanschauungs“ – Autoren abkanzeln. Wenn jemand vom theosophischen oder rosenkreuzerischen Standpunkt aus schreibt, muß man es akzeptieren, sofern nicht gerade verlaufende Linien schief gebogen werden. (Man muß allerdings auch eingestehen, daß es schwierig ist, bei einem Leben von Geradlinigkeit zu sprechen, dessen Verlauf nur schwach punktiert ist)

Ich habe hier auch weder Raum noch Zeit, mich ausführlich mit Lehrmeinungen auseinanderzusetzen, und kann mich hauptsächlich nur auf das Referieren der Disparatheit beschränken.
 Die Mängel von Berichten und Sekundärliteratur sind mannigfaltig. (Die Darstellung in rein literarischen Werken kann ich im wesentlichen nur wiedergeben. Für ästhetische Kritik ist hier wenig Platz, auch wird der Graf von Saint-Germain in den meisten Werken nicht als historische Figur behandelt, sondern im weitesten Sinne als Symbolgestalt benutzt. Wichtig ist hier im einzelnen Fall nur die Stimmigkeit der Behandlung oder die Intuition des Autors oder auch nur die Bestimmung der Funktion, die man Saint-Germain zuteilt. – Schwierig ist es nur bei einer Reihe von Arbeiten, die zwischen den Gattungen oder Literaturarten liegen (Danneberg, Tetzlaff, Lamothe-Langon , Heim) und als solche typisch sind. Ich gehe gegebenenfalls überwiegend auf das rein biographische Element in ihnen ein. 
Es beginnt bei Ungenauigkeiten wie der Ortsangabe „Plewig“ für Schleswig und führt über schlimme Datenmanschereien zu puren Erdichtungen.
 Oder aber man recherchiert bis zu einem Zeitpunkt und erklärt dann, die Spur des Grafen verliere sich im Dunkel, obwohl ihre Fortsetzung sogar aktenkundig ist. Das gilt besonders für einige französische Autoren, die die eminent wichtigen Lebenserinnerungen Karls von Hessen-Kassel nicht gekannt oder kaum beachtet haben.
 Am Ende stehen fragwürdige Gesamteinschätzungen. Das Charakterbild Wallensteins ist im Vergleich mit dem Saint-Germains eine eherne Statue im 3D-Realismus; und man übertreibt kaum, wenn man über die Biographie Saint-Germains das Motto setzt „Suum cuique“ mit der Übersetzung „Jedem Autor der Seine“, der eigene private Saint-Germain nämlich, oder: jeder, wie er es versteht; denn man hat im Überblick manchmal den Eindruck, als ob die Darstellung der einzelnen Verfasser viel mehr über sie und ihr Weltbild aussagt als über die behandelte Figur. (Ich möchte mich hier vor einer Verallgemeinerung, jede historische Biographie betreffend, hüten).
 Ganz grob kann man die Bearbeiter des Themas „Saint-Germain“ in zwei Lager einteilen. Auf der einen Seite stehen die Skeptiker (meist vergangener Generationen), die ständig bemüht sind, dem „Wundermann“ hinter die Schliche zu kommen. Sie durchstoßen oft das ihn umgebende Dunkel, sind aber trotzdem wenig erhellend. – Auf der anderen Seite findet man die verstehenden Metaphysiker (meist jüngerer Geburt), die zwar oft an den Fakten vorbei schauen, dabei aber intuitiv das Richtige sehen können. -
Das Amateurwesen hat bei unserem Gegenstand überhaupt seine Vorzüge. Die nicht rein fachlich gebundenen Autoren sind wenigstens nicht unbedingt autoritätsgläubig wie Historiker, z.B. bei uns G.B. Volz, für den die „staatstragenden Kräfte“ – Botschafter, Außenminister und andere – von vornherein zuungunsten des einzelnen, im Recht sind. Kommt noch eine vagierende und in ihren Ressourcen nicht zu ergründende oder im bürgerlichen Sinne nicht klar durchschaubare Existenz hinzu, so ist das Urteil von vornherein gesprochen.

Beispiel ist die Affäre Choiseul (die ich schon erzählt habe), in welcher der Graf von Frankreich König erst heimlich benutzt und dann nach dem unverschuldeten Mißerfolg fallengelassen wurde. Beispiel ist auch das Unternehmen Färberei Nettine in Tournai, bei dem der „Scharlatan“ Saint-Germain von der Geschichtsgröße Kaunitz übers Ohr gehauen wurde. Kurz der Verlauf: Saint-Germain bot dem Wiener Hof über dessen Botschafter in Brüssel, Cobenzl, seine chemotechnisehen Kenntnisse an. Er wollte seine Fertigkeiten in der Tuchfärberei einer Fabrik zur Verfügung stellen, die mit dem Gelde der Bankiersfamilie Nettine und Subsidien Wiens gegründet werden sollte. Saint-Germain ging es dabei allein um die Gründung einer Industrie zum Wohle des Landes. Er selbst wollte nur die Auslagen für seine Vorexperimente ersetzt haben und, wie wir heute sagen würden, ein Gehalt als Technischer Leiter.  Stattdessen zog man erst sein Wissen aus ihm heraus und jagte ihn dann davon. Kaunitz ließ dann doch von der Fabrik ab, da er um die Privatindustrie der österreichischen Niederlande fürchtete, wenn der Staat sich allzu sehr selbst beteiligen würde. Die finanzielle Zwangslage, in die er damit die Nettines brachte, wurde offiziell dem Saint-Germain zur Last gelegt, und so steht er noch heute – ein frühes Opfer von Medienmacht – vielfach als Gauner da, obwohl er von den Repräsentanten eines der größten europäischen Herrscherhäuser gerupft worden ist.
Zu sagen „Was aber bleibt, stiften die Dichter“ wäre trotz allem ein ungerechtes Urteil, vor allem den französischen Autoren der Sekundärliteratur gegenüber. Auffällig ist allein schon ihre Anzahl. Der Graf von Saint-Germain wird in Frankreich, trotz seiner andersartigen Herkunft, nicht nur seines Pseudonyms wegen als französische oder vor allem zu diesem Lande gehörende Erscheinung angesehen. Das hat dann seine Berechtigung, wenn man bedenkt, daß er in der relativ kurzen Zeit seines Aufenthalts dort und nur dort im vollen Lichte der Öffentlichkeit gestanden hat, und daß es kaum andere als französisch schreibende Zeugen seines Lebens gibt. Man kann seinen Namen solchen wie Diderot und Grimm beimischen, und er ist im ganzen mit tout Paris dieser Zeit verbunden. 
Infolgedessen sind aus der Feder französischer Autoren gerade nach dem 2. Weltkrieg eine Reihe fundierter Monographien entstanden, die entweder selbst neue Fundamente gelegt haben (Chacornac, L’hermier) oder aber auf bereits bestandenen aufgebaut und die Perspektiven richtig zurechtgerückt haben (Delorme, Heim).
 Im Deutschen gibt es demgegenüber sehr wenig. Der Graf von Saint-Germain wird hier offenbar als Fremdling empfunden, und dazu noch als anrüchiger. In der neueren Zeit bilden eine Ausnahme nur die beiden Arbeiten von I. Tetzlaff, die Vorstudie „Unter den Flügeln des Phönix“, die sehr zur Beschäftigung mit dem Thema anregt, und die daraus hervorgegangene Romanbiographie, die ganz neue Aspekte eröffnet und Seiten aufschlägt, die bisher gänzlich unbekannt geblieben sind.
 Zwar schrieb Maurice Heim schon 1957, es gäbe schon so viele Schriften, die sich auf den Grafen von Saint-Germain bezögen, daß es schon einiger Kühnheit, wenn nicht gar der Anmaßung („presomption“) bedürfe, ein weiteres Mal ein „oeuvre originale“ über den Stoff zu versuchen, aber er fährt dann fort mit der Bemerkung, er hätte es gewagt, denn das Thema sei noch nicht erschöpft.
 Noch bunter als bei den Werken, ‚die sich mehr oder weniger an die Fakten gebunden fühlen, ist das Bild in der reinen Belletristik. Es reicht von der Räuberpistole (Karl May) bis zur religiösen Betrachtung (Eduard Lenz), vom Idyll („Der Elf mit dem blauen Helm“) bis zur dämonischen Gespenster- und Vampirgeschichte („Die Abenteuer in der Sierra Morena“). Die Spannweite der Autoren geht von Puschkin bis zu Phineas Taylor Barnum, dem amerikanischen Zirkusdirektor und Schausteller; von Johanna von Koczian bis zu Honore de Balzac (wobei als Ergebnis am Rande zu verzeichnen ist, daß die SuUB Hamburg (Stabi) keine deutschsprachige Gesamtausgabe seiner Werke besitzt). Der Herr von Knigge – ein Verkannter – ist daran ebenso beteiligt wie das Deutsche Fernsehen (über Johanna von Koczian).
 Die Okkupationen seiner Person werden natürlich längst nicht alle Saint-Germain gerecht. Häufig wird nur ein interessantes Detail bei ihm benutzt (sein Tee, sein „Lebenselixier„), so bei Knigge, oft muß er nur seinen Namen hergeben für Begebenheiten, die nur sehr entfernt mit ihm zu tun haben (Potocki). – Es gibt Titel, in denen er allein Gegenstand der Darstellung ist oder eine sehr große, wenn auch nicht immer historische Rolle spielt (Oettinger, Lamothe-Langon), und man findet solche, in denen er die eigentliche Geschichte nur von fernher auslöst (Pique Dame).
 Entsprechend vielfältig sind Charakterisierung und Auftrittsart. Entweder ist er der große edle Retter mit magischen Kräften (Winckelmann) oder aber man bekommt ihn als kleineres Menschenkind vorgeführt, das sich, älter geworden, Jesus Christus anschließt und ihm dabei hilft, den eigenen Freund aus dem Tempel von Jerusalem auszutreiben (Jan Potocki). Manchmal agiert er pompös auf Bühnenbrettern (Karl May: Das Zauberwasser), dann wieder zieht er lieber im Hintergrund still seine Fäden (Lamothe-Langon: Le comte de Saint-Germain et la Marquise de Pompadour). Fast immer aber ist er änigmatisch, die geheimnisvolle Gestalt, die niemand ergründen kann. -
Im letzten Abschnitt will ich noch einmal versuchen, sie zu umkreisen.

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https://st-germain.de/fognin/der-digitale-bettler/

Redaktionell: 

Scan-Exemplar. Fußnoten aus techn. Gründen entfernt

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Lernet-Holenia, Langeveld, Dannenberg, Irene Tetzlaff, Lamothe-Langon , Heim, Schleswig, Karl von Hessen-Kassel, G.B. Volz, Choiseul, Färberei Nettine in Tournai, Kaunitz, Cobenzl, Subsidien, Diderot, Grimm, (Chacornac, L’hermier, Delorme, Maurice Heim, Karl May, Eduard Lenz, Alexander Sergejewitsch PuschkinPhineas Taylor BarnumJohanna von KoczianHonoré de BalzacFreiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge, Lebenselixier, Potocki, Oettinger, Winckelmann, Jan Nepomucen Graf Potocki,